Durchsuchen Sie unser Wissen

Zur Startseite

Eichhörnchen beobachten und melden

Themen

  • Übersicht
  • Klimakrise

Tiere und Pflanzen

Der Rotttaler Bauernbub und die Dießensteiner Leite

Mit strahlenden Augen hat uns Helmut Steininger diesen Weg gezeigt. Die Rettung der Dießensteiner Leite war nicht nur einer seiner ersten großen Erfolge, sie hatte auch eine besondere persönliche Bedeutung für ihn, weil sie Teil seiner engsten Heimat war: Als Bub war er hier häufig mit seiner Mutter und seinen beiden Brüdern durch Sonne und Regen vom Bahnhof Fürsteneck zu einer Tante in der Nähe von Perlesreut gewandert, 10 Kilometer hin, 10 zurück. Einen Bus gab es nicht; er wäre auch zu teuer gewesen.

Als Rotttaler Bauernbub hat er sich gerne bezeichnet, aufgewachsen ist er auf einem kleinen Hof in Hirschbach südlich von Passau, also in der Gegend, die das Tourismusmarketing heute gern als das Bäderdreieck preist (und dabei schamhaft die Mais-Einöde verschweigt, die es weiträumig umschließt). Da Helmut Steiningers Mutter aber in der Nähe von Perlesreut Verwandte hatte, fuhr sie mit ihren drei Buben am Sonntag oft mit der Ilztalbahn bis Fürsteneck, und von dort ging es zu Fuß weiter nach Perlesreut – und am Nachmittag wieder zurück.

Ihr Weg führte vom Bahnhof Fürsteneck das Ilztal hinauf, an der Schrottenbaummühle, der Schneider- und der Dießensteiner Mühle vorbei durch die Dießensteiner Leite bis unterhalb von Ellersdorf, und von dort steil den Hang hinauf über Kirchberg nach Perlesreut. Zusammen mit dem Weg von Hirschbach zur Bahnstation in Birnbach (und zurück) waren das fast 30 Kilometer – keine Kleinigkeit für eine Mutter mit drei Kindern. Aber so war es damals, es ging nicht anders. Man darf annehmen, dass die drei am Sonntagabend ungewöhnlich ruhig waren. 

Wege, die man in frühen Jahren häufig gegangen ist, wachsen einem ans Herz, auch wenn man sie damals manchmal verflucht hat – sie sind Teil der eigenen Kindheitserinnerungen. Helmut Steininger, inzwischen Landesgeschäftsführer des Bund Naturschutz, war daher auch persönlich getroffen und empört, als er 1973 erfuhr, dass ein Unternehmer aus Rottenburg/Laaber die gesamte Dießensteiner Leite unter einem Stausee verschwinden lassen wollte, um dort Strom zu gewinnen. Das Wasser sollte durch einen Stollen abgeleitet werden, sodass unterhalb der Staumauer eine 5 km lange "Flussleiche" entstanden wäre. 

Doch er beschränkte sich nicht darauf, zu schimpfen: Steininger war ein Mann der Tat. Persönlich organisierte er den Widerstand. Er veranstaltete Vorträge und Führungen, um der Bevölkerung, die dem tief eingeschrittenen, waldreichen Tal eher desinteressiert gegenüberstand, den Wert ihrer Heimatslandschaft bewusst zu machen.

Grundstückskäufe für den Widerstand

Parallel nutzte er eine zweite Taktik, die damals noch ganz neu war, nämlich den Ankauf sogenannter Sperrgrundstücke. Damals besaßen die Naturschutzverbände nämlich noch kein Klagerecht gegen Eingriffe in die Natur. Also mussten sie oft ohnmächtig dabei zusehen, wie öffentliche oder private Projektbetreiber ihre Proteste ignorierten und ungerührt ihr Zerstörungswerk durchzogen.

Ein gut platziertes Sperrgrundstück änderte dies: Dann müssen die Betreiber, bevor sie ihr Vorhaben realisieren konnten, erst einmal eine Enteignung durchsetzen. Dafür wiederum mussten sie ein "überwiegendes öffentliches Interesse" nachweisen – und zwar vor einem ordentlichen Gericht, nicht bloß gegenüber ihren Spezln in Gemeinderäten und Landratzämtern. Und falls die erste Instanz auf Enteignung erkannte, konnte der BN in Berufung gehen: Das Recht auf Eigentum ist schließlich durch das Grundgesetz garantiert.

Steininger hatte Glück: Zwar hatte der Unternehmer viele Grundstücke schon an sich gebracht; viele Eigentümer waren wohl froh, diese schwer zu bearbeitenden Steilhangwaldflächen loszuwerden. Dennoch konnte Steininger drei Grundstücke erwerben, indem er den Unternehmer überbot. "Um den Gegenwert eines neuen Mittelklassewagens", wie der BN 1973 mitteilte, erwarb er die Flächen; das entsprach damals etwa 15-20.000 DM. 

"Wir schießen jetzt aus vollen Rohren."

Als "Sauhaufen, ein ganz hinterfotziger" beschimpfte der düpierte Unternehmer daraufhin den BN, berichtete der Spiegel (7/1973) amüsiert, und kündigte an, den Kauf mit einer Zivilklage rückgängig machen zu wollen: "Wir schießen jetzt aus vollen Rohren." Getroffen hat er aber offenbar nicht: Die Klage, so sie denn überhaupt eingereicht wurde, brachte ihm nichts.

Steininger hatte noch ein zweites Mal Glück: An einer seiner Führungen nahmen, wie uns erzählte, zwei Töchter des damaligen Staatssekretärs und späteren bayerischen Umweltministers Alfred Dick teil, der ebenfalls familiäre Bindungen in die Region besaß. Sie überzeugten ihren Vater, der vom Bruder des Unternehmers intensiv bearbeitet wurde (Dick laut Spiegel: "Der ist mindestens a Stund bei mir dag'sessn"), dass die Dießensteiner Leite unbedingt erhalten werden müsse. 

Doch Dick ließ sich nicht einwickeln; im Herbst 1974 teilte mit, dass "mit Sicherheit nicht mit einer Verwirklung des Vorhabens gerechnert werden [kann]. Es ist vielmehr beabsichtigt, die Dießensteiner Leite unter Naturschutz zu stellen." Dabei spielte wohl auch eine Rolle, dass die Aktion "Rettet die Ilz" unter tatkräftiger Mitwirkung des BN 37.000 Unterschriften sammelte – eine sensationelle Zahl für diese dünn besiedelte Region.

Trotzdem dauert es noch bis 1981, bis die Stauseepläne endgültig aufgegeben wurden und die Dießensteiner Leite tatsächlich zum Naturschutzgebiet erklärt wurde. 2002/03 wurde die Ilz sogar zur "Flusslandschaft des Jahres" erklärt – und selbstverständlich wurde "vergessen" zu erwähnen, wer sie vor der Zerstörung gerettet hatte.

Jahrzehnte später führte uns Helmut Steininger mit sichtlicher Freude und großem Stolz durch die Dießensteiner Leite. Bis zu seinem allzu frühen Tod im Juli 2015 verschaffte es ihm eine tiefe Befriedigung, die Landschaft seiner Kindheit vor der Zerstörung bewahrt zu haben. Gewiss haben viele Menschen mitgeholfen, diesen einzigartigen Wildfluss zu retten, aber Steiningers Mut und Tatkraft, verbunden mit tiefer Heimatliebe, haben einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet.